Bericht von der Bezirksverordnetenversammlung am 10. Juni 2015

Insbesondere zwei Themen beschäftigten die Neuköllner Bezirksverordneten in der Juni-Sitzung der BVV: Der sogenannte "Neuköllner Kopftuchstreit" und der Einwohnerantrag zum Milieuschutz im gesamten Norden Neuköllns

Die BVV startete bedauerlicherweise ohne Bürgerfragestunde, weil es keine Anfragen von Bürgern gegeben hatte. Obwohl es in Neukölln tatsächlich wenig Bürgeranfragen gibt, wurde von SPD- und CDU-Fraktion die Geschäftsordnung für Bürgerfragen verschärft. Die in der Sitzung geänderte neue Geschäftsordnung verlangt jetzt, dass Bürgerfragen mindestens zehn Tage vor der BVV-Sitzung im BVV-Büro eingehen müssen, um noch behandelt zu werden. 

Die erste Mündliche Frage beschäftigte sich mit der geplanten Flüchtlingsunterkunft in der Karl-Marx-Straße. Nach dem die SoWo-Berlin GmbH monatelang mit dem Landesamt für Gesundheit und Soziales verhandelt hatte und man sich dort endlich geeinigt hat, beginnt das ganze scheinbar wieder von vorne. Jetzt wird von neuem mit der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales verhandelt. Obwohl beispielsweise in der Notunterkunft für Flüchtlinge im Mariendorfer Weg unbeschreiblich schlechte Bedingungen herrschen, hat die Senatsverwaltung es scheinbar nicht eilig, hier zu einem positiven Abschluss zu kommen. Die Unterbringung in der Notunterkunft ist grade bis zum 31.12.2015 verlängert worden. Die Frage der Union zur Verwendung des Neuköllner Bezirkswappens war eine „Provinzposse besonderer Art“. Das Bezirksamt hat den politischen Gebrauch des Bezirkswappens von SPD und CDU als Ausdruck der Verbundenheit zum Bezirk Neukölln gesehen und sieht deshalb keinen Grund zur Meldung an die Innenverwaltung. Die Fraktion DIE LINKE findet das häufige Verwenden des Bezirkswappens von den beiden „Volksparteien“ anmaßend und Ausdruck von schlechter politischer Kultur. DIE LINKE hat gefragt, ob das Bezirksamt Neukölln Frauen mit Kopftuch diskriminiert und ob das kürzlich vom Bundesverfassungsgericht zu dem Thema gefällte Urteil bindend wäre. Das Bezirksamt antwortete, es würde keine kopftuchtragende Frauen diskriminieren und bei dem aktuellen Fall hätte es noch keine endgültige Entscheidung gegeben. Das Urteil würde nur Lehrerinnen in Nordrhein-Westfalen betreffen.

Die in der letzten Sitzung vertagten Großen Anfragen wurden zu erst behandelt. Marlis Fuhrmann hatte nach dem Parkbestand des ehemaligen Thomas-Kirchhof gefragt. Das Gelände, welches nicht in den Besitz des Landes Berlin gegangen ist, dient als Ausgleichsfläche für den Weiterbau der Autobahn A100. Da man erst am Beginn des Planungsprozess wäre, könnte vom Bezirksamt noch keine konkreten Angaben zu Sache gemacht werden. Die Große Anfrage zur „Notfallversorgung BER“ der SPD-Fraktion hat auf ein Defizit aufmerksam gemacht. Wenn der neue Flughafen in Schönefeld endlich fertig werden wird, wird es zu einem eklatanten Mangel bei der Notfall-Versorgung kommen. Das Neuköllner Krankenhaus in Rudow wäre dann das nächste Krankenhaus zur Schwerpunktversorgung des neuen Flughafens. Die schon jetzt total überlastete Rettungsstelle im Neuköllner Krankenhaus war ursprünglich für 25.000 Notfälle konzipiert und behandelt jetzt bis zu 70.000 Notfälle pro Jahr. Man kann nur hoffen, dass die neue Rettungsstelle eher fertig wird, als der Flughafen BER.  Thomas Licher hat für DIE LINKE auf die massive Belastung der KrankenhausmitarbeiterInnen hingewiesen. Wegen der Kommerzialisierung des Gesundheitswesens gibt es keinerlei Kapazitätsreserven in den Krankenhäusern und schon eine kleine Zahl von Verletzten bringen die Rettungsstellen in große Bedrängnis. Vor diesem Hintergrund ist auch der aktuelle Streik an der Charité zu begrüßen, der erstmals den massiven Personalmangel an den Krankenhäusern aufgreift und hier eine Verbesserung im wsinne von Patienten und Personal fordert. Weil es bisher an dem neuen Flughafen keine Ambulanz gibt, wird vorgeschlagen, stattdessen die Einrichtung zur Abschiebung von Flüchtlingen in eine Rettungsstelle umzuwidmen. Die Anträge der LINKEN „Berufliche Perspektiven für Stadtteilmütter“ und „Makkabi-Games“ wurden in geänderter Form mit der Konsensliste beschlossen. 

Der erste Höhepunkt der Sitzung war die Diskussion und Abstimmung zum Einwohnerantrag zum „Milieuschutz“ für Nordneukölln.  Nach dem Tom Küstner als Vertreter des Einwohnerantrages das Ziel noch mal begründet und auf die grundsätzliche Bedeutung von Milieuschutz zum Schutz der Mieter hingewiesen hatte, gab es eine längere Debatte zu dem Thema. Die Union hat dabei argumentiert, dass das Eigentum bzw. die Profitmöglichkeiten der Vermieter geschützt werden sollten und außerdem der Milieuschutz ein unwirksames Mittel wäre. Das ist eine völlig widersprüchliche Position, denn wenn der Milieuschutz wirklich unwirksam wäre, bestände keine Gefahr für die Profite der Hausbesitzer. Nach dem die SPD-Fraktion länger die Einrichtung von Milieuschutzgebieten in Neukölln grundsätzlich abgelehnt hatte, tritt sie jetzt für die Einrichtung von zwei kleinen Milieuschutzgebieten im Reuterkiez und an der Schillerpromenade ein. Wegen dem Druck der Neuköllner Bevölkerung, der allgemeinen Wichtigkeit der „Mietenfrage“ und der Nähe zu den nächsten Wahlen musste auch die Neuköllner SPD ihre hausbesitzerfreundliche Position verändern. Dafür wurde von der SPD ein Antrag „Zeitplan für Milieuschutzgebiete“ eingebracht. In dem Antrag wird das Bezirksamt gebeten, einen Zeitplan für „Voruntersuchungen“ zum Milieuschutz zu erstellen. Während tagtäglich Menschen aus Nordneukölln wegziehen müssen, weil sie sich die gestiegenen Mieten nicht mehr leisten können, spielt die SPD-Fraktion auf Zeit und versucht die Einrichtung von Milieuschutzgebieten weiter zu verzögern. Für DIE LINKE hat Marlis Fuhrmann für den Einwohnerantrag geworben und auf die Wichtigkeit des Schutzes der Mieter vor sozialer Vertreibung hingewiesen. Die drei Oppositionsfraktionen haben nacheinander auf die Dringlichkeit der Einrichtung der Milieuschutzgebiete und auf die Wichtigkeit des Zeitfaktors aufmerksam gemacht.  Der Einwohnerantrag zum Milieuschutz für Nordneukölln wurde mit den Stimmen der SPD und CDU gegen die Stimmen der Grünen, Piraten und LINKEN abgelehnt. 

Nach dem schon im Stadtentwicklungsausschuss die beiden großen Fraktionen gegen den Einwohnerantrag gestimmt hatten, wurde von Grünen und LINKEN ein Änderungsantrag zum SPD-Antrag eingebracht. Der Änderungsantrag hatte einen konkreten Zeitplan für das Bezirksamt zur Durchführung der Voruntersuchungen zum Milieuschutz vorgesehen. Auch dieser Änderungsantrag wurde mit den Stimmen der Zählgemeinschaft von SPD und CDU abgelehnt.  Ein besonderes Abstimmungsverhalten gab es bei der Beschlussempfehlung „Bezahlbaren Wohnraum schaffen“. Der ursprünglich von der CDU eingebrachte Antrag hat das Ziel, landeseigene Grundstücke zur Schaffung von Wohnraum an kommunale Wohnungsbau-Gesellschaften und Private Investoren verbilligt abzugeben. Im Ausschuss wurde der Passus mit den „Privaten Investoren“ auf betreiben der LINKEN gestrichen. Bei der Abstimmung haben die Fraktionen von SPD, Grüne, Piraten und LINKE für und die CDU gegen diesen Antrag gestimmt.

 Der zweite Schwerpunkt der BVV war die Debatte zur dringlichen Großen Anfrage der Grünen zum Thema „Kein Referendariat für Kopftuchträgerinnen in Neukölln?“ Der Dringlichkeit war schon im Ältestenrat entsprochen worden und die Anfrage wurde als erste neue Große Anfrage in die Tagesordnung aufgenommen. Die Debatte zu diesem Thema begann leider erst zu fortgerückter Stunde und die Besucherplätze waren nur noch schwach gefüllt. In der zusammengefassten Antwort zur Mündlichen Anfrage der LINKEN und der Großen Anfrage der Grünen wurde über den Entscheidungsprozess zur Einstellung der „Kopftuchtragenden Rechtsreferendarin“ berichtet. Nach dem sich die Referendarin um die Tätigkeit beim Bezirksamt bemüht hatte, wurde die Entscheidung vom Rechtsamt ans Bezirksamt weitergeleitet. Ers nach öffentlichem Protest und einer Beratung im Bezirksamt wurde entschieden, dass unter Berücksichtigung des Berliner Neutralitätsgesetzes die Referendarin beschäftigt werden könne, wenn sie keine Bescheide verfasst.  Bei der Debatte sind mehrere Bezirksverordnete von CDU und SPD negativ aufgefallen und haben eine mögliche Anstellung der Referendarin wegen der von ihr „losgetretenen“ Medienkampagne  abgelehnt. Die beiden großen Zählgemeinschaftsparteien scheinen wenig über die Lebensgewohnheiten in Nordneukölln zu wissen und die CDU-Fraktion lehnt weiter die Anstellung von Kopftuchträgerinnen grundsätzlich ab. Für DIE LINKE hat Thomas Licher auf das falsche Bild von der unterdrückten Frau mit dem aufgezwungen Kopftuch hingewiesen. Wenn Frauen mit Kopftuch ein Studium der Rechtswissenschaften erfolgreich absolvieren oder Lehrerinnen werden, dann passen sie nicht in das vorurteilsgeladene Bild von konservativen Politikern. Weiter wurde von Thomas Licher der ehemalige Berliner Innensenator Ehrhard Körting zitiert, der am Berliner Neutralitätsgesetz mitgeschrieben hatte. Dieser sagt inzwischen, dass mit dem Neutralitätsgesetz möglicherweise das Gegenteil von dem bewirkt werde, als das, was man erhofft hatte. So habe sich gezeigt, dass das Gesetz die Emanzipation von muslimischen Mädchen und Frauen nicht fördert, sondern behindert. Für die Piraten hat Semih Kasap noch mal auf die Bedingungen der Betroffenen aufmerksam gemacht und die Emotionalität der Frage thematisiert. In der Diskussion hat Christan Posselt auf Polizistinnen in Kanada und England aufmerksam gemacht, die selbstverständlich mit Kopftuch ihrer Arbeit nachgehen. Wenn die Betroffene jetzt eine Anstellung beim Neuköllner Rechtsamt nicht annimmt, ist das nach der Debatte mehr als nachvollziehbar.